Getriggert und getröstet – was macht William Toel mit mir?
von Ruth Meishammer (Kommentare: 1)
- Ermächtigung zur Selbstliebe ohne Schuld und Scham
- Der amerikanische Professor war im Mai 2022 zu Gast in Überlingen
- Ein persönlicher Stimmungsbericht von s!!z-Autorin Ruth Meishammer
Gespannt wie ein Flitzebogen bin ich, als ich am 28. Mai 2022 zusammen mit rund 100 anderen Menschen ins Überlinger Umland fahre, um William Toel zuzuhören und mir endlich einmal ein persönliches Bild jenseits von Videobotschaften zu machen. Ich höre mit großer Freude, wie der alte Mann über die Deutschen spricht, wie er mich ermutigt und ermahnt, in meine ureigene Kraft zu kommen und finde es wertvoll, dass er all die Qualitäten und Errungenschaften der Deutschen in mein Bewusstsein hebt und mich aufruft, frei zu werden von Scham- und Schuldgefühlen, welche mich in der Vergangenheit gefangen halten und mich lähmen. Diese Lähmung kann niemand gebrauchen angesichts einer stürmischen Gegenwart, die mein Denken und mein Handeln auf ganzer Linie fordert. Es ist wichtig, dass ich als Bürgerin dieses Landes aufrecht und mit Rückgrat stehe, dass ich mir frei und selbstbestimmt eine Meinung bilde und dafür einstehe. William Toels Aufruf zur „Befreiung“ von den Fesseln der Vergangenheit und zum Freiwerden für die Gegenwart finde ich absolut richtig.
Irritiert bin ich aber doch davon, dass Toel bei seinen historischen Betrachtungen die Jahre zwischen 1933 bis 1945 komplett ausspart. Kein einziges Wort darüber. Für mich und für meine Biographie, beziehungsweise für die meiner Eltern und Großeltern, sind diese Jahre sehr bedeutsam: Mich beschäftigt die Frage, wie es sich für meine Großeltern angefühlt haben mag, als sie 1940 in eine neue Wohnung zogen und die jüdischen Vormieter ihnen Kühlschrank und sämtliche Möbel für einen Appel und ein Ei überließen. Mein damals fünfjähriger Vater erinnert sich noch genau an die bedrückende Stimmung, die in der Küche herrschte und – so meine Wahrnehmung – er trägt ein Schuldgefühl noch heute mit sich herum. Mich beschäftigt die Frage, wie mein Großvater 1945 vom glühenden Hitler-Verehrer über Nacht zum Demokraten wurde und vor allem, welche Wirkung dieser Wandel wohl auf meinen Vater gehabt haben mag. Konnte er seine Eltern noch ernst nehmen?! Mich interessiert, wie meine beiden Eltern damit klarkamen, dass ihre Eltern nach dem Krieg nicht über ihre Scham- und Schuldgefühle sprachen. Zwar wurde in den Nachkriegsjahren viel „Entnazifizierung“ geübt, es wurde gemahnt und der Opfer gedacht und gelobt, dass die schrecklichen Verbrechen nie wieder geschehen dürfen. Wie aber sah es in den Seelen und Herzen der Menschen aus, die in der Nazizeit Täter oder Opfer und oft genug – so wie meine Großeltern mütterlicherseits - beides gewesen waren?! Was wurde bei allem äußerlichen „Nie wieder!“ wirklich gefühlt?! Was habe ICH, 1968 geboren, bei allem Lesen und Reden über die Zeit des Nationalsozialismus je wirklich gefühlt?! Habe ich den Schmerz, der aus ihrer Heimat vertriebenen jüdischen Deutschen je gefühlt? Das Leid der in den KZs Gepeinigten an mich herangelassen?! Habe ich je den Schmerz derjenigen gefühlt, deren Angehörige in Hamburg, Dresden und anderswo bei den Luftangriffen der Alliierten starben? Ich bin überzeugt, dass diese Gefühle in vielen von uns noch keinen Platz gefunden haben und noch Raum zur Heilung brauchen. Ich glaube nicht, dass wir das Trauma der Deutschen einfach ad acta legen können, so gerne man das würde. Loslassen kann man nur das, was man einmal in der Hand hatte.
Je länger ich William Toel über diese für mich so brennenden Fragen schweigen höre, desto unruhiger werde ich. Ich bin kurz davor, aus dem Raum zu laufen, so stark ist meine Empörung. Als es am Ende des Vortrags eine kurze Gelegenheit gibt, Fragen zu stellen, bringe ich mein Unbehagen zur Sprache. William Toel geht gar nicht darauf ein, und ich kippe fast vom Stuhl. Erst später, als uns beiden Journalistinnen noch die Gelegenheit für ein kurzes Interview gegeben wird, stelle ich meine Frage noch einmal. Und jetzt wird mir klar: Toel ist komplett frei von Schuldgefühlen und von dem Gedanken, dass wir Deutschen welche haben sollten. Er wünscht sich einfach sehnlich, dass die Deutschen aus der Lähmung herausfinden und ihren wertvollen Beitrag in der Welt leisten. Jetzt erst, in diesem Gespräch, kann ich die Schönheit seines Wunsches wirklich sehen und mich entspannen. Indem ich mein eigenes Bedürfnis, Raum für Schmerz und Trauer zu haben, zur Geltung gebracht und Raum dafür geschaffen habe, brauche ich mir diesen Raum nicht mehr von William Toel zu wünschen. Bin ja selber groß. Für mich persönlich braucht es noch viel Raum für die Heilung alter Wunden, und in Gesprächen mit anderen Deutschen gewinne ich oft den Eindruck, dass auch sie alte weitergereichte Traumata nicht einfach per Beschluss oder Aufforderung ad acta legen können. Deshalb kann ich mich William Toels Strategie der Aussparung der Nazizeit nicht anschließen. Schlicht und ergreifend, weil es für mich nicht funktioniert. Aber froh bin ich durchaus über Toels Veranstaltung: Die von ihm gesetzten Triggerpunkte haben mir geholfen, mir klar darüber zu werden, was für mich als Deutsche stimmig ist auf dem Weg zu mehr innerer Freiheit. Wie gerne wäre ich mit den anderen TeilnehmerInnen in einen Austausch darüber gekommen! Die Anregung zu solchem Austausch anzuregen – dies könnte der eigentliche Verdienst des William Toel sein.
Zum Kommentar der Bericht von stattzeitung über den Vortrag von William Toel (William Toel, Weckruf oder Geschichtsklitterung?).
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Kommentare
Kommentar von Manfred Müller |
So ein treffender Kommentar; er bringt genau auch mein diffuses Unbehagen bei gleichzeitig berechtigtem Anliegen zum Ausdruck, das ich beim Anhören von Toels Videobeitragen verspürte und bringt dies durch Benennen erst wirklich ins Bewußt-Sein - danke Ruth und Stattzeitung - einen lieben Gruß von Manfred
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